THE WORLD ACCORDING TO THE OBSTINATE CHARACTER
Der Eigensinnige und wie er die Welt sieht

DER EIGENSINNIGE UND WIE ER DIE WELT SIEHT

Wer ist der Eigensinnige? Wie lässt er sich beschreiben? Wie lebt er, wie wirkt er auf die Welt ein und wie lässt er sich von ihr beeinflussen? Was mag er, was stößt ihn ab, wie denkt er und wohin will er? Diese Fragen stelle ich mir schon lange, und ich muss immer wieder feststellen, dass es fast unmöglich ist, den Eigensinnigen zu beschreiben – denn einerseits sind Worte unzulänglich und Dinge ändern sich, und andererseits ist sein Wesen derartig anti-statisch und sich stets wandelnd, dass jeder Versuch, ihn in Worte zu fassen, nur eine Momentaufnahme sein kann oder eben dieses stetige In-Bewegung-Sein beschreiben muss. Dennoch bin ich mir sicher, dass auch der Eigensinnige einen unveränderbaren, essenziellen Kern hat, und deshalb will ich den Versuch wagen, ihn zu porträtieren.

DER EIGENSINNIGE IST EIN PARADOXES WESEN.

Natürlich ist jeder Mensch ein widersprüchliches Wesen, denn in jedem Leben prallen Gegensätze aufeinander, sind widersprüchliche Gedanken und Gefühle gleichzeitig vorhanden. Der Eigensinnige ist sich dieser Widersprüche aber intensiv bewusst, er spürt ihre Gegenwart und die Erschütterung, wenn sie aufeinanderprallen. Aber er lässt sich davon nicht (mehr) irritieren. Er hat gelernt, sich in die entstehende Spannung hineinzuschmiegen. Es geht ihm auch nicht (mehr) nur darum, Widersprüche auszuhalten. Es gelingt ihm, das Aushalten der Widersprüche zu lieben und die Energie zu nutzen, die in solchen Zwischenräumen entsteht. Insofern ist er eine Art Zwischenwesen, das zwischen den Polen von unten und oben, rechts und links, vorne und hinten hin- und herspringt. In Freiräumen, die Luft zum Atmen geben und in denen keine vorgefertigten Meinungen und definierten Standards Menschen in Schubladen stecken. Er genießt es, ein solches Zwischenwesen zu sein, denn die Zwischenräume füllen sich mit Freiheit. Und die Freiheit ist ein Ort voller Möglichkeiten, die nach Erfüllung schreien. Das schreckt den Eigensinnigen nicht ab, ganz im Gegenteil:

 

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Kaum lässt sich seine Form definieren,

negiert er diese schon wieder.

 

EIGENSINNIG WIEN

ER LIEBT DIE VERÄNDERUNG.

Er erträgt das Gefühl des Stillstands nicht, und das wird bei ihm schon dort unerträglich laut, wo es andere noch nicht einmal hören. Er ist stets in Bewegung. Als anti-statisches Wesen folgt der Eigensinnige keiner Form. Kaum lässt sich seine Form definieren, negiert er diese schon wieder. Und dann schlüpft er in eine neue Form, nur um sie gleich wieder zu dekonstruieren. Eine nie endende Aufgabe, aber er kann nicht anders und er liebt es so. Ist es anstrengend? Ja. Ist es erfüllend? Für den Eigensinnigen auf jeden Fall, denn es entspricht seinem innersten Kern. Und der ist fix und stark, unzerstörbar und unveränderbar, trotz aller Wandlungssucht, trotz all der unterschiedlichen Formen, in die er sich hinein- und wieder hinausgießt.

Der Eigensinnige fließt durchs Leben. Er fließt aber nicht mit dem Strom, er geht nicht verloren in Wellen oder Flussbewegungen, sondern er fließt in seinem eigenen Tempo und in seiner eigenen Richtung und in seiner eigenen Tiefe – und all diese Dinge können sich freilich jeden Moment ändern. Sie können sich ändern, weil sie es von sich aus tun – oder weil der Eigensinnige es so will.

DER EIGENSINNIGE IST GLEICHZEITIG INNERHALB UND AUSSERHALB DER WELT.

Er lebt bewusst, indem er sich und sein Tun in der Welt stets aus der Distanz betrachtet, überprüft und nachjustiert, wenn er glaubt, dies tun zu müssen – als würde sich ein Teil von ihm lösen, der Alarm schlägt, wenn sein Handeln nicht mehr richtig scheint, nicht mehr im Einklang mit dem, was sein Eigensinn ihm vorgibt – dieser Kompass, der ihn durchs Leben lenkt. Er ist ein Skeptiker und Zweifler. Er nimmt nichts als gegeben hin, weil das nicht seinem Naturell entspricht. Aber was ist sein Naturell?

DER EIGENSINNIGE KANN NICHT ANDERS. UND DAS IST GUT SO.

Es gibt diesen Spruch: „Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen.“ Die Eigensinnigkeit ist dem Eigensinnigen zu eigen. Sie ist in ihm angelegt, und zwar so großflächig und laut, dass er gar nicht anders kann, als ihr Ausdruck zu verleihen, denn sonst erstickt er an ihr. Authentisch fühlt er sich erst, wenn er sie auslebt, wenn er ihr den Raum gibt, den sie braucht. Deshalb liebt er die Freiheit und das Sich-Ausdehnen-im-Raum. Sich nicht authentisch zu fühlen ist ihm nicht möglich, denn der Eigensinn lässt sich weder verleugnen noch unterdrücken. Er muss gelebt werden, weil der Körper, in den er eingebettet ist, sonst in Aufruhr gerät und der Eigensinn sich gegen ihn richtet. Das Schöne am Eigensinnig-Sein ist, dass der Eigensinnige es liebt, seinen Eigensinn anzuwenden. Wobei das nicht immer einfach ist. Nein, ganz im Gegenteil, meistens ist es nicht der Weg des geringsten Widerstands. Meistens bedeutet das, immer wieder unbetretene Pfade mit festen Schritten zum eigenen Weg zu machen. In der Sphäre des Unbekannten fühlt er sich aber glücklicherweise zuhause. Deshalb passt er nirgendwo wirklich hinein und ist gleichzeitig überall daheim – solange er nicht in Räume oder Kategorien gesperrt wird.

HIER DRÄNGT SICH DIE FRAGE AUF: HAT JEDER MENSCH EINEN EIGENSINN?

Ich denke, ja. Aber bei manchen schläft er, bei anderen ist er sehr klein und leise, sodass er unterdrückt oder verdeckt werden kann. Es ist das eine, Eigensinn zu haben. Ihn wahrzunehmen, zu manifestieren und Tag für Tag umzusetzen, ist das andere. Das unterscheidet den Eigensinnigen vom Noch-nicht- oder Nicht-genug-Eigensinnigen oder von jenem, der einfach nicht eigensinnig sein will. Es ist wichtig festzuhalten, dass der Eigensinn sich stets im Außen manifestiert. Und das tut er beim Eigensinnigen eben, indem dieser neue Wege geht.

 

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Von zwei Übeln wähle ich stets jenes,

das ich noch nicht kenne.

 

MAE WEST

"VON ZWEI ÜBELN WÄHLE ICH STETS JENES, DAS ICH NOCH NICHT KENNE", HAT DIE SCHAUSPIELERIN MAE WEST GESAGT.

Unbekannte Wege zu beschreiten ist zwar anstrengend und bedeutet viel Arbeit, aber der Eigensinnige weiß, dass in dieser Art zu leben die größten und lohnendsten Erkenntnisse stecken. Er ist ein Handelnder und nicht nur ein Redender. Er strebt nach Weiterentwicklung, für sich selbst und damit auch für die Welt. Sein pulsierendes, nach Außen drängendes Inneres will in die Welt hineinwirken und dort schlummerndes Eigensinniges in anderen aufwecken. Insofern ist er gleichzeitig Egoist und Altruist. Wenn er sich ins Unbekannte aufmacht, ist er gleichzeitig hochmütig und demütig. Denn er weiß, dass viele Dinge einfach passieren und er nicht alles unter Kontrolle hat. Er sieht sich als Schöpfer seiner Welt, aber nicht als allmächtig, denn er weiß zu unterscheiden zwischen Dingen, die er ändern kann, und solchen, die er in Demut akzeptieren muss. Im Rhythmus des Lebens kann es nicht immer nur bergauf gehen.

DESHALB AGIERT DER EIGENSINNIGE RHYTHMISCH.

Lethargie, Phlegmatisch-Sein, Stillstand, unbewusstes Handeln, Opportunismus – all diese Dinge regen den Eigensinnigen auf und zum Handeln an. Sie machen ihn unrund, wühlen ihn auf, und diese Energien muss er nach außen kanalisieren.

Heißt das, dass der Eigensinnige immer zielgerichtet agiert, immer eine Mission verfolgt, sich zum Handeln gezwungen sieht? Dass er ein unsteter Geist ist, ein Getriebener? Nicht zwangsläufig. Denn er gibt sich auch gerne dem Genuss und Kontrollverlust hin. Wenn es ein bewusstes Sich-Hingeben ist, dann tut er es aus voller Überzeugung. Denn er weiß, dass auch aus der Pause und dem Verlust heraus etwas Neues entsteht. Und Neues zu erschaffen, ja, das ist sein Antrieb. Insofern ist er ein entspannter Getriebener, der kreieren und erneuern muss, dabei aber auch innehalten kann. Er weiß, wann es Zeit ist zu schweigen und wann er laut werden muss. Er kann einschätzen, ob Langsamkeit oder Tempo angebracht ist. Er spürt, ob er sich zurückziehen oder nach vorne schießen muss. So wie Ebbe und Flut sich abwechseln, so wechselt er zwischen dem Rückzug ins Innere und dem Hinausgehen in die Welt, zwischen Schweigen und Aufschreien.

All dies klingt, als würde er nie Fehler machen, als wäre er perfekt. Das ist er aber ganz und gar nicht. Denn wie könnte man sich weiterentwickeln, ohne Fehler zu machen?

DER EIGENSINNIGE LEBT SEIN UNVOLLSTÄNDIG-SEIN VOLLSTÄNDIG AUS.

Er erkennt sich als unvollständiges Wesen an, das nie stillsteht und nie fertig sein kann. In diesem Sinne kann er nie ankommen, aber das hindert ihn nicht daran, sich Ziele zu setzen. Er strebt nach Perfektion, sieht sie als Anspruch, obwohl er weiß, dass er sie nie erreichen wird. Er reift an seinen Erfahrungen; seine Narben sind Denkmale, die ihn warnen sollen oder ihm zeigen, ob die Richtung, in die er gerade geht, noch die richtige ist. Und immer leitet ihn dabei sein Eigensinn. Dieser sieht die Welt, wie sie ist, aber auch, wie sie sein könnte.

 

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Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt,

muss es auch einen Möglichkeitssinn geben.

 

ROBERT MUSIL

DER SCHRIFTSTELLER ROBERT MUSIL SAGTE EINMAL: "WENN ES EINEN WIRKLICHKEITSSINN GIBT, MUSS ES AUCH EINEN MÖGLICHKEITSSINN GEBEN."

Der Eigensinnige ist ein Möglichkeitenseher. Er weiß, dass sich in jedem Moment unzählige Wege aufsplittern, aus denen er wählen kann. Er liebt es, Gewohnheiten zu durchbrechen. Lethargie und unbewusste Gleichgültigkeit sind ihm Gräuel.

„Misstraue jedem, der alles gut findet, und dem, der alles für schlecht hält, noch mehr aber dem, dem alles gleichgültig ist“, wie der Philosoph Johann Caspar Lavater es einmal so treffend formuliert hat. Weil aber so viel Leidenschaftslosigkeit in der Luft schwebt, kann er nicht anders, als immer wieder auf sich aufmerksam zu machen. Wie sonst kann das kollektive Unbewusste aufgebrochen werden?

DARUM MUSS DER EIGENSINNIGE MANCHMAL STÖREN.

Er fordert sein Umfeld heraus wie sich selber, wenn er in einen inneren Dialog tritt und Dinge mit sich ausverhandelt. Wenn ihn etwas stört, muss er aufrütteln, aufzeigen, Bewusstheit herstellen. Er reißt andere aus ihrer Lethargie, weckt sie auf aus dem Koma der unhinterfragten Gewohnheiten. Er ist ein Störenfried, wenn er es für nötig erachtet. Er ist ein Unruhestifter, wenn er es für sinnvoll hält. Er kracht gerne mit voller Wucht in Gedankenkonstrukte, die als wahr und richtig empfunden werden, und entlarvt sie auf diese Art und Weise als falsche Wahrheiten.

 

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Misstraue jedem, der alles gut findet, und dem,

der alles für schlecht hält, noch mehr aber dem,

dem alles gleichgültig ist.

 

JOHANN CASPAR LAVATER

ABER DER EIGENSINN IST NICHT GLEICH STARSINN.

Der Eigensinnige ist nicht dagegen, nur um dagegen zu sein. Er schreit nur dann NEIN oder DOCH, wenn er es für richtig hält. Er rennt nicht mit dem Kopf gegen die Wand, um mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen oder die Blicke auf sich zu ziehen. Er tut es nur dann, wenn es einen möglichen Weg für ihn darstellt – einen direkten, schnellen, vielleicht brutalen Weg, der aber an einen Ort der Einsicht führt. Oft geht ihm alles zu langsam und zu träge, darum handelt er gerne schnell und manchmal vielleicht auch etwas unüberlegt. Aber er lernt aus den Kopfwunden, die beim Rennen gegen Wände entstehen. So entwickelt er sich weiter. Er arbeitet strukturiert-chaotisch und verlängert seine Impulsivität hinein in ein überlegtes Handeln, das dadurch besonders viel Energie hat.

WIE DIE WELT AUF IHN WIRKT?

Über die Sinne erfährt der Eigensinnige die Welt. Sein Eigensinn leitet ihn dabei – er bestimmt, was wahrgenommen und was ignoriert werden soll. Dabei achtet er besonders auf das, was starke sinnliche und oder emotionale Reaktionen in ihm auslöst, denn dabei handelt es sich um seine Wegweiser. Mit seinem Verstand überprüft er diese Reaktionen dann und entscheidet das weitere Vorgehen. Insofern verbindet er Intuition und Verstand, die einander ergänzen. Er lernt stets dazu, agiert vorwärtsgerichtet und denkt in diesem Sinne nicht nach, sondern vor. Er lebt nicht in der Vergangenheit, sondern akzeptiert ihr Vorbeisein und nimmt nur jene Dinge aus vergangenen Zeiten mit, die ihn auf seinem eigensinnigen Weg weiterbringen. Er handelt – nach Søren Kierkegaard – vorwärts und versteht rückwärts. Er spürt viel und antizipiert dadurch Dinge in der Luft, die er dann manifestiert. So ist er seiner Zeit oft voraus. Aber Trendsetter zu sein, das ist nicht sein Anspruch, denn er lebt in einer Sphäre der Raum- und Zeitlosigkeit.

 

Der Eigensinnige ist all das und noch viel mehr, aber genauso wie er selber um seine Wabi-Sabi-artige Unvollkommenheit weiß, ist mir bewusst, dass dieser Text ihn nur anreißen kann. Irgendwo und irgendwann hören die Worte auf. Wie zum Beispiel hier und jetzt.

 

Toni Woldrich
eigensinnig wien