Düfte
Düfte - Pensées - eigensinnig wien

DÜFTE

P E N S É E S

„Nothing is more memorable than a smell“, hat die Autorin Diane Ackerman gesagt. Gerüche rufen urplötzlich Erinnerungen wach: Der ofenfrische Apfelkuchen versetzt einen Jahrzehnte zurück in die Kindheit am Land; das Parfum, das die Partnerin beim ersten Date getragen hat, holt Bilder von der damaligen abendlichen Kulisse von der Vergangenheit ins Jetzt. Gerüche sind wie eine Urgewalt. Sie überwinden alle Schranken und dringen blitzartig ins eigene System ein, wo sie alles einfärben. Ohne Umwege überfluten sie das limbische System des Gehirns, den Sitz der Gefühle. Diese Gefühle können einen positiv oder negativ einnehmen; sie haben die Macht, zu euphorisieren oder zu überfordern. Insofern haben Gerüche etwas Mystisches, Unverständliches. „Es gibt eine Überzeugungskraft des Duftes, die stärker ist als Worte, Augenschein, Gefühl und Wille. Die Überzeugungskraft des Duftes ist nicht abzuwehren, sie geht in uns hinein, wie Atemluft in unsere Lungen, sie erfüllt uns, füllt uns vollkommen aus, es gibt kein Mittel gegen sie“, schreibt Patrick Süskind in seinem Roman ‚Das Parfum’.

Drei Viertel des Tages atmen wir mit nur einer Nasenhälfte. So wie es Links- und Rechtshänder gibt, gibt es auch Links- und Rechtsnasen.

Gerüche sind omnipräsent; so wie wir atmen müssen, müssen wir riechen. Interessanterweise tun das die meisten Menschen drei Viertel des Tages nur mit einer Nasenhälfte, wie die Forschung herausgefunden hat. So wie es Links- und Rechtshänder gibt, gibt es angeblich auch Links- und Rechtsnasen. Das Thema Riechen ist größer als wir vielleicht denken mögen – wir nehmen es sogar mit in unsere Sprache: So stinkt uns etwas bis zum Himmel oder es gibt Menschen, die wir nicht riechen können. 

Es gibt intensive Gerüche – wie jene von Parfums – und weniger intensive. Das Haus der Großeltern hat einen Geruch. Ein altes, oft gelesenes Buch, bei dem Papier und Tinte über die Jahre Duftstoffe abgeben, wenn sie Sonnenlicht, Hitze und Feuchtigkeit ausgesetzt waren. Die Stadt hat einen Duft. Der Morgen kurz nach dem Sonnenaufgang. Und dann gibt es Gerüche, die man nicht riechen kann: Jeder Mensch hat einen kaum wahrnehmbaren Geruch. Aber er ist da, und spielt bei der Partnerwahl eine entscheidende Rolle, sagen die Neurowissenschaften und sprechen in diesem Kontext von Pheromonen – Botenstoffe, durch die Menschen sexuelle Informationen austauschen. „Mit seiner engen Verbindung zur Sexualität und zur Gefräßigkeit trägt der Geruchssinn das Signum der Animalität“, schreibt der Soziologe Jürgen Raab. 

Gerüche machen animalisch – unter anderem dieser Bewertung ist es zu verschulden, dass der Geruchssinn in der Philosophie lange Zeit als primitiv galt und den anderen Sinnen untergeordnet. Aristoteles und Kant werteten ihn genauso ab wie Descartes, der den Geruchssinn als derb bezeichnete. Erst Nietzsche schenkte ihm wieder positivere Aufmerksamkeit, als er ihn mit der Erkenntnisfähigkeit in Verbindung brachte: „Mein Genie ist in meinen Nüstern.“ Später schrieb der französische Lyriker Charles Baudelaire ganze Gedichte über Gerüche; er war selber vernarrt in sie und arbeitete am liebsten mit parfümierter Tinte, wie man sich erzählt. Heute gelten Parfums immer mehr als eigenständige Kunstform. So bezeichnet der Parfumeur Jean-Claude Ellena seine Parfums als Gedichte, Kurzgeschichten, Novellen oder Romane. 

In Patrick Süskinds Roman kann Jean-Baptiste Grenouille, der Hauptprotagonist, keinen Eigengeruch an sich feststellen. Er fühlt sich identitätslos, und dieser Zustand wird so unerträglich, dass er zum Mörder wird: Er will das perfekte Parfum aus dem Eigengeruch junger Frauen kreieren – um geliebt zu werden, so wie sie. Wenn nun Eigengeruch identitätsstiftend ist, kann dann das Tragen eines Parfums identitätsverstärkend sein? Kann man Eigenes sichtbar machen, indem man es riechbar macht? Oder kann ein Parfum vielleicht sogar vom Eigengeruch ablenken; kann es Identität verschleiern, abändern?


Literaturempfehlung:

- Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
- Patrick Süskind: Das Parfum
- Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen

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