SCHWARZ.
EINE HOMMAGE AN DIE DUNKELSTE ALLER FARBEN
E S S A Y
Schwarz ist voller Widersprüche – die Farbe, die keine ist. Sie ist achromatisch und zeichnet sich durch etwas aus, was nicht da ist: In ihr ist jegliches Licht abwesend. In ihr wohnen viele starke, einander entgegensetzte Attribute und Zuschreibungen: das Böse, die Trauer, die Melancholie. Die Eleganz, das Understatement, die Poesie. Die Arroganz, der Minimalismus, die Existenz an sich. Diese Zuschreibungen und Assoziationen variieren nicht nur von Person zu Person, sondern auch je nach Kontext und Kulturkreis. In Japan trauert man z.B. in Weiß.
Black is modest and arrogant at the same time. Black is lazy and easy - but mysterious. But above all black says this: ‚I don’t bother you - don’t bother me‘.
YOHJI YAMAMOTO
SCHWARZ IST DIE FARBE DER EXISTENZIALISTEN
Wenn Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir mit Albert Camus und Maurice Merleau-Ponty in verrauchten Pariser Etablissements der 1930er-Jahre debattierten, die Bourgeoisie verfluchten und die Revolte planten, trugen sie meistens Schwarz. Auch sonst taten sie das, denn sie wollten, dass ihr Gegenüber, dass „der Andere“, nicht abgelenkt wurde von Äußerlichkeiten; schließlich ging es um ihre Ideen und Inhalte und Ideale. Um die Freiheit des Menschen, seine Individualität innerhalb der Gemeinschaft, seine Verantwortung sich selbst und den anderen gegenüber.
In den USA der 1960er rebellierte die Black Panther Party, eine schwarze Bürgerrechtsbewegung, gegen Unterdrückung und Polizeigewalt. Beim Superbowl-Auftritt 2016 hüllte Beyoncé ihre Background-Sängerinnen in schwarze Lederuniformen und Baskenmützen, als Hommage an die Black Panthers. „Okay ladies, now let's get in formation.“ Manche Kämpfe müssen jahrzehntelang gekämpft werden.
Nicht ablenken lassen! Es geht um Ideen, Inhalte und Ideale. Um die Freiheit des Menschen, seine Individualität innerhalb der Gesellschaft, seine Verantwortung für sich selbst und den anderen gegenüber.
DAS SCHWARZ DER EXISTENZIALISTEN IST AUCH DAS SCHWARZ DER AVANTGARDE, DER INTELLEKTUELLEN, DER KREATIVEN
Avantgarde-Mode-Labels wie Yohji Yamamoto, Comme des Garçons, Rick Owens, Carol Christian Poell (CCP) oder Issey Miyake hüllen ihre konzeptionellen Kreationen bevorzugt in Schwarz. Letzterer ist auch für den Rollkragenpullover des verstorbenen Apple-Gründers Steve Jobs verantwortlich. Hunderte Stück ein- und desselben von Miyake designten Modells besaß Jobs angeblich. Es gibt wohl kaum einen Architekten, in dessen Schrank kein schwarzer Rollkragenpullover zu finden ist. Fast jedes Klischee hat einen wahren Kern. Was sowohl Jobs als auch der Architekt damit sagen will? Es geht nicht um mich, sondern um das, was ich bauen werde? Ich will mich selber zurücknehmen und nicht auf das fokussieren, was ich bin, sondern auf das, was ich tue? Möglich.
Es kann aber auch das Gegenteil sein. So unterstellt der Psychologe Max Lüscher Schwarz-LiebhaberInnen eine gewisse Kühle, Härte, Gefühlslosigkeit und „einen eigensinnigen Anspruch auf Geltung“. Schwarz ist eben bescheiden und arrogant zugleich, wie Yamamoto so schön gesagt hat. Es drängt sich auf, indem es sich zurückhält.
Wo man nichts sieht, kann man alles vermuten. Was man dann sieht, sagt wohl mehr über einen selber aus als über die Farbe.
SCHWARZ IST AUCH UNIVERSELL UND INDIVIDUELL
Es lässt sich nicht in Schubladen legen oder Register pressen. Es ist androgyn, männlich und weiblich zugleich. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf das Design, den Schnitt, die Silhouette. Es lässt die Persönlichkeit des Trägers oder der Trägerin durchscheinen, lässt seinen oder ihren Geistesinhalten den Vortritt, und ist dennoch dicht, intensiv, voll. Es ist vollkommene Dunkelheit und deshalb auch ideale Projektionsfläche: Wo man nichts sieht, kann man alles vermuten. Was man dann sieht, sagt wohl mehr über einen selber aus als über die Farbe.
Ist Schwarz ein Spiegel?
DIE NACHT VERSCHLUCKT ALLE FARBEN
„Auf schwarzen Bergen sind schwarze Tiere schwarz“, sagte der deutsche Historiker Johann Galletti. Nicht ohne Grund war das berühmteste Quadrat der Kunstgeschichte schwarz: Der russische Maler Kasimir Malewitsch wollte mit seinem ‚Schwarzen Quadrat auf weißem Hintergrund‘ (1915) „die Kunst vom Gewicht der Dinge befreien“, so wie die Existenzialisten den Menschen vom Gewicht des Äußeren und des Zeitgeists befreien wollten. Auch der Künstler Lucio Fontana war ein solcher Schwarzmaler. Für ihn ist Schwarz die Farbe des Endes und des Anfangs zugleich. Aus der Dunkelheit, in die Dunkelheit. Out of the dark, into the dark.
Es stellt sich die Frage: Des Endes und des Anfangs wovon? Von der Welt, vom Leben?
"SCHWARZ IST DAS NEUE SCHWARZ"
... schreibt die Journalistin Barbara Vinken in der NZZ. Im Reigen der Farben genießt es eine Sonderstellung, es ist Meta-Farbe, es ist außen vor, es passt immer. So wie es sich charakterisiert durch ein Fehlen von Licht, so ist in ihm auch noch eine weitere Qualität abwesend: die Zeit. In Schwarz ist die Zeit abwesend wie das Licht. Es ist zeitlos und somit nie Ausdruck eines Zeitgeists. Es steht für Dauer, Halt, Stille inmitten einer Welt, die nicht anders kann, als sich selber ständig zu beschleunigen. Somit gibt es eine Art von Sicherheit; es bietet Schutz, legt sich wie ein warmer Mantel um Menschen, wenn sie sich fragil fühlen. So schminken in Indien Mütter die Augen ihrer Kinder mit schwarzem Ruß, um sie vor dem „bösen Blick“ zu schützen.
Schwarz ist ein Paradoxon, ein Chamäleon ohne Farben.
Gleichzeitig steht es für viele wieder für das Gegenteil. „Schwärze besitzt eine immense Palette von unheimlichen Assoziationen: Tod, die Unterwelt, die Leere, Blindheit, die Nacht, in der (…) Geister ihr Unwesen treiben,“ schreibt der Historiker Jeffrey Burton Russell. Schwarz ist mysteriös, unberechenbar, es ist die Farbe des Bösen, der Depression (man denke an die Metapher des schwarzen Hundes), der Trauer: In schwarzen Stoffen dürfen sich schwere Emotionen ertränken. Es ist die Farbe der Abgründe – sowohl im All (‚Schwarze Löcher‘ und ‚Dunkle Materie‘) als auch im Leben (‚dark night of the soul‘). Die viel zu jung verstorbene Musikerin Amy Winehouse ging „back to black“ – zurück in die eigenen Abgründe, die nach dem (zu?) euphorisierenden Bad in der Liebe noch dunkler und tiefer und kälter und unerträglicher wurden. „It’s easier to fall if you’re closer to the floor“, so eine Textzeile des Singer-Songwriters Charlie Cunningham im Song „Lights Off“. Gewöhnt man sich irgendwann an die Dunkelheit? Wird sie etwas von einem selbst offenbaren, wenn man aufhört, sie zu fürchten?
Die dunkelste aller Farben ist ein Paradoxon, ein Chamäleon ohne Farben. Sie steht in Selbstbewusstsein für sich und lässt sich dennoch mit anderem füllen, aufladen. Sie ist autonom und braucht gleichzeitig einen Träger, eine Trägerin. Sie mischt sich nicht ein, gibt nichts vor. Sie sagt eben: „I don’t bother you - don’t bother me“. Sie ist und lässt sein. In größter Noblesse. In größter Diskretion. Schwarz ist Poesie ohne Worte.
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