Der Zweifel

Der Zweifel

DER ZWEIFEL

Im Zweifel für den Zweifel, wie die deutsche Indie-Band Tocotronic singt. Ist das so? Vermutlich nicht immer. Im Zweifel für den Angeklagten, heißt es vor Gericht. Warum mögen ihn die einen, warum verachten ihn die anderen? Oder besser gefragt: Wann – also unter welchen Umständen – wird der Zweifel geschätzt, wann verurteilt? Gibt es Momente oder Zeiten, in denen er sinnvoller ist als in anderen?

 

Der Zweifel als Nicht-Glauben oder Nicht-Wissen

Wer zweifelt, weiß nicht, was er tun soll. Man steht dann an einem Punkt, von dem mindestens zwei Wege abgehen. Dazu passt die ursprüngliche Bedeutung des Wortes: „Zwîvel“ kommt aus dem Mittelhochdeutschen und heißt soviel wie „doppelt, zweifach, gespalten“. Man wird in die Reflexion gezwungen, in die Selbstbefragung und die Analyse des Außen.
Aber wer zweifelt, der weiß nicht nur nicht: Er kann auch nicht glauben. Lange Zeit war der Zweifel der Erzfeind der Kirche und er ist es vermutlich noch immer, denn das Hinterfragen der Existenz Gottes gilt als sündenhaft, das Anzweifeln einer höheren Macht als Hybris und Hochmut. So sehr er zu polarisieren vermag, so verbindend ist er auch wiederum. Der Zweifel als Nicht-Glaube und Nicht-Wissen vereint die zwei gegenüberliegenden Pole von Glauben und Wissen in sich – in ihrer Negativität. Insofern liegt in ihm etwas Fruchtbares.

 

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Gelobt sei der Zweifel.

 

BERTOLD BRECHT

Die Fruchtbarkeit des Zweifels

Fruchtbar insofern, als dass der Zweifel bewirken kann, sich mal auszuklinken. Sich rauszunehmen aus dem Lauf der Dinge, aus dem automatisierten Alltag. Sich an den Rand der Welt zu setzen und alles mal aus der Ferne anzusehen, die Dinge umzudrehen und von allen Seiten zu betrachten – mit der Wirkung, vielleicht klarer zu sehen, Muster zu erkennen, das große Ganze besser zu fassen. Der Zweifelnde ist eine Person, die sich am Status Quo reibt, nicht alles akzeptiert und hinnimmt, was sich ihr entgegenstreckt. Er ist jemand, der irgendetwas Anderes sucht als das, was sich ihm bietet, der keine Ruhe findet, der getrieben ist von Fragen, die ihn aufwühlen. Insofern ist der Zweifel eine Art Motor und Motivator. Ein Raum, der aufgeht und in dem man langsam denken darf. Eine produktive Kraft, die im besten Fall gute Entscheidungen und fundierte Urteile herbeiführt. Der Wirtschaftspsychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann spricht in diesem Kontext vom langsamen Denken, das er dem schnellen Denken gegenüberstellt. Ersteres ist anstrengend und benötigt Zeit und Geduld, während das schnelle Denken voreilig und emotional geleitet ist – und dadurch auch fehleranfälliger.

 

Das Misstrauen auf die Sinne

„Wer Recht erkennen will, muss zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben“, sagte Aristoteles. Der Schriftsteller André Gide war der Meinung: „Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben.“ René Descartes‘ Menschenbild basierte sogar auf dem Zweifel: Seiner Argumentation zufolge seien die Sinne fehleranfällig – man könne sich nicht auf sie und das Bild, das sie von der Welt und dem eigenen Körper machten, verlassen. Im schlimmsten Fall, so der französische Denker, sei auch der Körper eine Illusion. Wer könne das Gegenteil beweisen? Und wie können wir uns sicher sein, nicht zu träumen, sondern wach zu sein? Sein Fazit lautete: Ich denke, also bin ich. Die Existenz eines Subjekts, das zweifelt, sah er als einzige Wahrheit. Eine radikale Sichtweise, die mit der Aufforderung einhergeht, alles soweit wie möglich mittels Zweifel zu überprüfen. Mittels methodischen Zweifels, wie es bei ihm heißt.

 

 

 

KURT TUCHOLSKY - ZWEIFEL

 

Ich sitz auf einem falschen Schiff.

Von allem, was wir tun und treiben,

und was wir in den Blättern schreiben,

stimmt etwas nicht: Wort und Begriff.

 

Der Boden schwankt. Wozu? Wofür?

Kunst. Nicht Kunst. Lauf durch viele Zimmer.

Nie ist das Ende da. Und immer

stößt du an eine neue Tür.

 

Es gibt ja keine Wiederkehr.

Ich mag mich sträuben und mich bäumen,

es klingt in allen meinen Träumen:

Nicht mehr.

 

Wie gut hat es die neue Schicht.

Sie glauben. Glauben unter Schmerzen.

Es klingt aus allen tapfern Herzen:

Noch nicht.

 

Ist es schon aus? Ich warte stumm.

Wer sind Die, die da unten singen?

Aus seiner Zeit kann Keiner springen.

Und wie beneid ich Die, die gar nicht ringen

Die habens gut.

Die sind schön dumm.

 

 

Erschienen in "Die Weltbühne", 1925

 

 

Der Zweifel als Provisorium

Nie darf er zum Selbstzweck werden. Der Zweifel ist Mittel zur Wegfindung, er ist Instrument. Und wenn man zulange in ihm steckenbleibt, wird er zum Morast, in dem man zu ertrinken droht. Man muss ihn zu bedienen wissen, sodass man nicht zu seinem Diener wird, zu seiner zappelnden Marionette. Beizeiten ist das sicherlich ein Drahtseilakt.

Ein Grenzgang, denn der Zweifel kann auch die Kontrolle übernehmen. Er kann übermächtig werden, alles einfärben und verwischen. Wenn der britische Philosoph Bertrand Russell bedauert, dass die Dummköpfe so selbstsicher und die Klugen so voller Zweifel seien, dann spricht er eine weitere Dimension des Zweifels an – die des Selbstzweifels, der im schlimmsten Fall zur Ver-Zweiflung führt, zur Stagnation oder Regression, zur Lähmung oder Krankheit. „In dem Augenblick, in dem ein Mensch den Sinn und Wert des Lebens anzweifelt, ist er krank“, war Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, überzeugt. Also oszilliert der Zweifel zwischen Zerstörung und Kreation. In ihm vereinen sich produktive und destruktive Kräfte. Und es kann nur am Menschen selbst liegen, ihn in angemessener Weise zu nutzen.

Wenn es auch einige gibt, denen er von Grund auf zuwider sein mag – ist er auch eine Art Ausdruck der Entschleunigung, während die Welt ringsum sich immer mehr beschleunigt. Zweifeln, zögern, zaudern, all das passt so gar nicht in die Welt der Macher:innen, der Nicht-zu-lange-Überleger:innen. Es passt nicht zum Diktat von „Just do it“ und vom Wachstum, das nie aufhören darf. Es passt nicht in Zeiten, die nach Output verlangen und in denen die größte Sünde die Trägheit ist. Wehe dem, der dem Nichtstun verfällt.

 

Oder?

Kann es vielleicht auch sein, dass der, der ein gewisses Nichtstun kultiviert und Pausen macht, zufriedener ist, bessere Entscheidungen trifft? Oder überhaupt, dass sich durch Nichtstun, durch Liegen-Lassen, zumindest jene Probleme von selbst lösen, die im Kern keine sind? Und sich so auch von denen abheben, die sich nicht aussitzen lassen?

Was wären wir ohne den Zweifel? „Im Zweifel für den Zweifel, das Zaudern und den Zorn. Im Zweifel für Zerwürfnisse und für die Zwischenstufen,“ heißt es weiter bei Tocotronic. Vielleicht ist der Zweifel auch dazu da, nicht mehr Gültiges zu sprengen. Und so Neues entstehen zu lassen. Sind also nicht jene zu bezweifeln, die es niemals praktizieren, das Zweifeln? Gäbe es das Aufbegehren ohne den Zweifel? Die Revolution?

Wer wären wir, würden wir niemals zweifeln?

 

Text: Martha Miklin
Ilustration:
Alexa Maria Warlits