P E N S É E S
„We run as fast as we can in order to stay in the same place“, sagte der Kulturhistoriker Peter Conrad vor über 20 Jahren. „Alles, was Dauer erfordert, dauert zu lange und alles, was Zeit beansprucht, beansprucht zu viel Zeit,“ beobachtete der Philosoph Günther Anders schon in den 1950er Jahren. Hatten wir immer schon das Gefühl, zu wenig Zeit und zu viel zu tun zu haben? Wann hat die Ära des rasenden Stillstands begonnen? Wann wurde die Gleichzeitigkeit der Dinge zum Standard? Seit wann drängt uns die Verpassungsangst in einen Handlungszwang? Warum versuchen wir überhaupt, der „Weltzeit“, die im sich Gegensatz zur „Lebenszeit“ potenziert, hinterherzukommen? Wann ist die Zeit so flüssig geworden?
Warum man nicht mehr in der Zeit wohnen will, das fragt sich auch der Soziologe Byung-Chul Han, wenn er schreibt: „Der Zeit fehlt heute das feste Gefüge. Sie ist kein Haus, sondern ein unbeständiger Fluss. Sie zerfällt zu bloßer Abfolge punktueller Gegenwart. Sie stürzt fort. Nichts gibt ihr einen Halt. Die fortstürzende Zeit ist nicht bewohnbar.“
Wir verzehren uns nach Tiefe, Echtheit, Intensität und schmettern gleichzeitig alles von uns, das entsprechende Erfahrungen ermöglichen könnte – aus Angst, Zeit zu verlieren.
SEINSSTEIGERUNG DURCH HABENSSTEIGERUNG
In fluiden Zeiten wie diesen wird die Sehnsucht nach etwas Festen immer lauter. Wir brauchen Anker-Erfahrungen, wir verzehren uns nach Tiefe, Echtheit, Intensität und schmettern gleichzeitig alles von uns, das entsprechende Erfahrungen ermöglichen könnte – aus Angst, Zeit zu verlieren, aus Angst, auf der Strecke zu bleiben. Wir häufen unterschiedliche Jobs, PartnerInnen, Reisen, Dinge an, in der Hoffnung, uns dann innerlich reich zu fühlen – der Soziologe Gerhard Schulze spricht in diesem Kontext von „Seinssteigerung durch Habenssteigerung“. Die Abwechslung hat Vorrang vor dem Immer-Gleichen. Und das, obwohl das Immer-Gleiche, das sich in der Wiederholung produziert, Halt gibt. Es strukturiert die Zeit, es schafft Orientierung, es setzt Anker. Zu unrecht wird der Wiederholung vorgeworfen, sie unterbinde Kreativität. Ist es wirklich fair, das Auswendiglernen (im Französischen „apprendre par coeur“ – „lernen aus dem Herzen“) als Zeitverschwendung zu verfluchen? Oder steckt vielleicht doch eine Art Kraft in der Wiederholung, die ja auch ein Wesensmerkmal des Rituals ist?
„Rituale (…) verwandeln das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein. Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort. Sie sind in der Zeit das, was im Raum eine Wohnung ist. Sie machen die Zeit bewohnbar. Ja, sie machen sie begehbar wie ein Haus“, so Han. Und ja, man kennt das doch: Das Treffen im Kreis der Freunde einmal im Monat, das einer bestimmten Dramaturgie folgt und sich so befriedigend und voll anfühlt. Auch seltsam wirkende Rituale sind sinnstiftend: So sang Ludwig van Beethoven beim Händewaschen die Tonleiter auf- und ab, und der Schriftsteller Friedrich Schiller legte faule Äpfel in seine Schreibtischlade, weil er „den Geruch des Verfalls zum Schreiben brauchte.“
Die Wiederholung derselben Klänge, die Aufhebung derselben verdichtet die geistige Atmosphäre, die notwendig ist zum Reifen der Gefühle...
WASSILY KANDINSKYAuch in der Musik wird die Wiederholung zelebriert. Der Bolero von Maurice Ravel ist ein gutes Beispiel dafür: das Thema wird 18 Mal konsequent unvariiert wiederholt. Als große Provokation wurde dieses „lange, progressive Crescendo“ von den meisten beschimpft. Andere wiederum, wie der expressionistische Maler Wassily Kandinsky, lobten dieses Immer-Gleiche: „Die Wiederholung derselben Klänge, die Aufhebung derselben verdichtet die geistige Atmosphäre, die notwendig ist zum Reifen der Gefühle …“. Er sah darin ein intensives Aufsaugen, eine Begegnung mit sich selbst auf einer Tiefenebene . In diese Richtung gehen auch die „Cleaning the House“ Workshops der Performance-Künstlerin Marina Abramović, wo die TeilnehmerInnen stundenlang Reiskörner zählen, sich in die Augen schauen oder einen Tag lang alles in Zeitlupe machen.
Rituale, Wiederholungen, das Immer-Gleiche: Vielleicht geben wir ihnen eine leise Chance im reißenden Strom der Gegenwart. Und schauen, was passiert.
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