Auf den Schriftsteller Robert Musil geht er zurück: der Begriff des „zehnten Charakters“. In seinem Opus Magnum „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930), jenem „großen Versuch, die zerfransende Welt der Moderne und ihre Bewusstseinsbrüche in eine Form zu bringen“ (so Helmut Böttinger in einem Artikel), stattet Musil den (Anti?-)Helden Ulrich mit diesem aus.
Um diesen zehnten Charakter beschreiben zu können, müssen wir zuerst die neun anderen, ihm vorgelagerten, erwähnen. Laut Musil handelt es sich um „einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht noch einen privaten Charakter.“ Es sind die Rollen, die einem Menschen als Bürger:in eines Landes, als Teil einer Gesellschaft abverlangt werden, die er alle bis zu einem gewissen Grad – aktiv oder passiv – kultivieren muss. Rollen, die ihn prägen und nahbar machen. Die Liste mag willkürlich erscheinen, nicht ganz durchdacht, aber das ist vermutlich Absicht, denn die Charaktere selbst sind wie Kleidungsstücke, die man ablegen und austauschen, die man einzeln und in Lagen tragen kann. Sie sind nicht konstituierend für den Menschen an sich, ganz im Gegenteil sogar, wie Musil schreibt: „Er vereinigt sie (Anm.: die neun Charaktere) in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen.“ Den „ganze [n] Mensch [en] “ gibt es nicht, nur „ein menschliches Etwas [...] in einer allgemeinen Nährflüssigkeit.“ Die neun Charaktere als Rinnsale, die den Menschen, der nichts als eine Mulde in einer nichtssagenden Nährflüssigkeit ist, auflösen. Ein brutales, unangenehmes Bild, das sich dystopisch anfühlt. Aber irgendwie auch ehrlich.
WAS IST JETZT ALSO DER ZEHNTE CHARAKTER? UND: WO IST ER?
Der zehnte ist, so kann man guten Gewissens behaupten, an einem anderen Ort – oder auf einer anderen Ebene angesiedelt als die anderen neun. Diese spielen sich auf nationaler Ebene ab, während der zehnte auf Erd- oder Weltebene wohnt. „Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte.“ Ein solcher Raum ist laut Musil „ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darinsteht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt.“ Was Ulrich, den Mann ohne Eigenschaften, von den anderen Bewohner:innen Kakaniens – dem Schauplatz des Romans und eine Anspielung auf das k. u. k. Reich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – unterscheidet? „Natürlich sind sie alle ohne Eigenschaften, aber an Ulrich ist es irgendwie sichtbar“, schreibt er.
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Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.
ROBERT MUSIL
DIE PASSIVE PHANTASIE UNAUSGEFÜLLTER RÄUME ALSO.
Ein sperriger Begriff, den wir so interpretieren wollen: In leeren Räumen liegen Möglichkeiten, die noch nicht aktiviert wurden. Und da sind wir auch schon beim zweiten Begriff, der eng mit dem des zehnten Charakters verwoben sein muss: Möglichkeitssinn. „Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen“, so Musil.
DIE TYRANNEI DER TAUSEND MÖGLICHKEITEN UND DAS ERSCHÖPFTE SELBST.
Der Möglichkeitssinn wirkt als Wort auf den ersten Blick durchaus freundlich. Ein genaueres Hinsehen lohnt sich, vor allem in Hinblick auf die Phänomene der Beschleunigung und des „rasenden Stillstands“ (Paul Virilio). Der Autor Wolf Lotter beschreibt diesen in einem Artikel als „Leben ohne Eigenzeit, in dem für alles Zeit ist – außer für die Frage, wohin man eigentlich läuft“. Ohne es gemerkt zu haben, ist Selbstverwirklichung zum Zwang und Selbstoptimierung zur Religion geworden. Kein Wunder, dass das Selbst ein erschöpftes ist, dass es ständig das Gefühl hat, etwas zu verpassen oder falsche Entscheidungen zu treffen. Kein Wunder, dass es davor zurückschreckt, sich fest zu binden / ein bestimmtes Studium zu wählen / einen Beruf zu ergreifen / usw. Es gibt doch noch so viel anderes! Die Wahlfreiheit ist Fluch und Segen zugleich. Wenn allein die Beurteilung aller vorhandener Optionen zur übermächtigen Aufgabe wird, steigt die Wahrscheinlichkeit des Gefühls der Ohnmacht. Und die Frage „Woher soll ich wissen, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe, wenn ich nicht mal alle Möglichkeiten angesehen habe?“ bleibt wie ein großer, unsichtbarerer Elefant in der Luft zurück und macht sie stickig und unangenehm warm. Wo ist das Fenster, mag man sich fragen, wo die Tür, der Notausgang?
"I WOULD PREFER NOT TO"
Bevor wir uns wieder Ulrich und seiner Eigenschaftslosigkeit zuwenden, möchten wir Bartleby aus der gleichnamigen Erzählung von Herman Melville, dem Autor von „Moby Dick“, in diesen Text weben. Als junger Schreiber in einer Kanzlei in der New Yorker Wall Street fällt er zunächst durch seine Schweigsamkeit auf. Mit der Zeit weigert er sich immer öfter, ihm aufgetragene Arbeiten auszuführen. Dabei verwendet er stets die Phrase „I would prefer not to“ – „Ich möchte lieber nicht“. Am Ende tut er gar nichts mehr.
Diese Verweigerung jeglichen Tuns mag das Symptom einer Depression sein. Aber sie kann auch als Antwort auf das sinnentleerte Tun, auf das Diktat des Tun-Müssens gelesen werden, das wie ein Damoklesschwert über der westlichen Gesellschaft hängt: Du musst nur wollen! Just do it! Dass Melville seinen Text 1853 veröffentlicht hatte, beweist, dass er ein unfassbares Sensorium hatte für Phänomene, die heute, mehr als 150 Jahre später!, um sich greifen. Und da wären wir auch wieder beim Thema Beschleunigung. Die Weigerung, das Tempo mitzumachen, ist die logische Gegenbewegung zur Beschleunigung. „I would prefer not to“ ist zu einem Slogan für alle jene geworden, die sich der immer schneller werdenden Welt nicht mehr anpassen wollen. Dazu ist zwar ein Burnout, eine Depression keine Voraussetzung, aber dennoch oft der Punkt, an dem man über das bewusste Nicht-Tun nachdenkt. Der Mensch entdeckt sich, so wie Ulrich bei Musil, als „Neinsagen-Könner“.
JUST DON'T DO IT.
Musil schreibt in diesem Kontext: „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“. Und damit meint er nicht nur, dass Wirklichkeit und Möglichkeit gleichwertig sein sollten, sondern dass auch das mögliche Nicht-Sein einem Sein gleichberechtigt sein sollte: Das Nicht-Sein als ebenbürtige Option im Pool der 1000 Möglichkeiten. In leeren Räumen liegen zwar Möglichkeiten, die noch nicht aktiviert wurden. Aber man kann sich auch bewusst gegen eine Aktivierung entscheiden. Und in einem Zustand passiver Phantasie verbleiben.
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Auch ein Nichtwissen-Müssen ist eine Möglichkeit für den Möglichkeitsmenschen.
NEGATIVER RAUM, FRUCHTBARES ZWISCHEN UND NICHTWISSEN-MÜSSEN.
Um die Vorstellungen rund um den zehnten oder x-ten Charakter, den Möglichkeitssinn und leere Räume noch etwas greifbarer zu machen, greifen wir auf ein Zitat von Aristoteles zurück: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“
Es zeigt: Das Zwischen zwischen Dingen oder Lebewesen ist kein toter Raum, sondern ein durchaus lebendiger, pulsierender. Der Philosoph François Jullien bezeichnet dieses Zwischen als „aktives, erfinderisches“, als fruchtbaren Raum. Man denke an den Wald, der mehr ist als die Gesamtheit seiner Bäume. Seinem unterirdischen Kommunikationsnetzwerk hat man den klingenden Namen Wood Wide Web gegeben. Man denke an die Dinge, die in so manchem Text zwischen den Zeilen wirken. Man denke an das Gewicht von Nicht-Gesagtem, an die Schwere eines Schweigens, das keines sein sollte oder an die Leichtigkeit, die in der Stille wohnt, wenn es um einen herum zu laut geworden ist. Man denke an den negativen Raum, im Japanischen nennt er sich „Ma“; in der Architektur bezeichnet er zum Beispiel den Raum zwischen zwei Tischbeinen oder Pfeilern. „Der Raum zwischen Objekten ist vergleichbar mit dem Raum zwischen den musikalischen Noten, die Stille, die letztlich genau so wichtig ist wie das, was erklingt“, sagt Musiker Devandra Banhart, der sein letztes Album nach dem negativen Raum benannt hat. „When you’re done with me, I see a negative space“, singt James Blake zu Rosalía im Song “Barefoot In The Park”. Meint er damit, dass er erst durch sie zu etwas, oder zu jemandem, wird? Dass ihm erst der Rahmen, den sie bietet, Form gibt – oder ihn gar in Form bringt? Oder dass er selbst der Rahmen war, und sie der Inhalt des Bildes, das mal sein Leben war? Wir wissen es nicht.
Aber auch ein Nichtwissen-Müssen ist eine Möglichkeit für den Möglichkeitsmenschen.
ULRICH 2021: DIE ZEHN WIRD ZUM X.
Musil war Visionär, aber auch Kind seiner Zeit, in der es noch lange „daß“ und „muß“ hieß. Wie hätte er wohl – und da rutschen nun auch wir in den Konjunktiv – seine neun Charaktere im 21. Jahrhundert beschrieben? Dass es mal so etwas wie ein World Wide Web geben würde, konnte er natürlich nicht erahnen. Der virtuelle Charakter wäre heute sicherlich Teil der Liste. Und auch der lässt sich vielfach aufspalten. Man denke nur an die „LinkedIn Facebook Instagram Tinder“ - Challenge, bei der Menschen sich selbst in vier Varianten präsentieren, die zu den einzelnen Netzwerken passen. Sängerin Dolly Parton fing damit an, Millionen andere machten es ihr nach. Das virtuelle Selbst gliedert sich hier in ein professionelles, ein sympathisches, ein kreatives und ein sex- oder partner:in-suchendes auf. Und das sind sicher noch nicht alle.
Es ist schön und ein guter Zufall, dass X die römische Zahl für 10 ist. So könnte man heute, ganz verwegen, den zehnten Charakter auch als x-ten Charakter bezeichnen. Denn die, die ihm vorgereiht sind, lassen sich vielleicht nicht mehr auf neun beschränken. Das tun wir nun einfach so, als Möglichkeitsmenschen, die Musil als „in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven“ lebend beschreibt. Eigenschaften, die man Kindern gerne austreibt, damit sie „mit beiden Beinen auf der Erde stehen“, wie es schon in der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende hieß.
Aber ganz ehrlich: Wer will das schon? Wer träumt sich nicht gerne Utopien herbei? Was wäre die Welt ohne Phantasie? „Der Möglichkeitssinn“, schreibt die Germanistin Brigitte Schwens-Harrant, „ist vielleicht überhaupt eine der Grundlagen, um Literatur zu schaffen – und um sie lesen zu können.“ Und wir erlauben uns, zur Literatur auch alle anderen Künste und kreativen Tätigkeiten dazu zu denken. So wie auch Mode.