P E N S É E S
“Wenn wir die Zeit, die wir für die Erfüllung legitimer Erwartungen bräuchten addiert, kommt man auf ca. 72 Stunden pro Tag. Und das führt dazu, dass wir in einem Zustand der Temporal-Insolvenz leben. Wir können die Zeit, mit der wir uns verschulden, weil wir die Dinge nicht getan haben, niemals zurückzahlen. Was dazu führt, dass am Ende des Tages Menschen immer als schuldige Subjekte zu Bett gehen,” schreibt der Soziologe Hartmut Rosa. Es passiert so viel mehr in den Stunden und Minuten der Tage, seitdem die Welt so rast, und seitdem wir gleichzeitig in zwei Dimensionen leben, der ‘echten’ und der virtuellen Welt. Während wir an der Supermarktkasse warten, schreiben wir WhatsApp-Nachrichten und klicken uns in diverse Apps, um die kleinen roten Benachrichtigungs-Punkte ‘abzuarbeiten’. Das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben, ist omnipräsent – und paradox: Denn eigentlich haben wir mehr Zeit denn je – dank der Fortschritte in Technik und Wissenschaft. Dinge, für die man früher lange Wege zurücklegen und viele Stunden investieren musste, kann man heute online in wenigen Minuten erledigen.
Eine lange Aufzählung von Ereignissen ergibt keine spannende Erzählung.
BYUNG-CHUL HAN“Vom Zeitalter des Marsches zum Zeitalter des Schwirrens”, betitelt der Philosoph Byung-Chul Han diesen Zustand. Unser Rasen gibt uns das Gefühl, dass die Zeit schneller vergeht. Diese vermeintliche Verkürzung der Zeit wird dann oft als bedrohlich empfunden: “Früher war alles besser”, sagen die Retropotisten wahrscheinlich auch deshalb. Um dem Gefühl der zu schnell vergehenden Zeit zu entkommen, flüchten wir uns ins Tun und Machen. Wir füllen die Zeit mit Ereignissen auf, aber auch das scheint den Eindruck des Zu-Schnell-Seins der Zeit nicht zu ändern. Seltsam unbefriedigend fühlen sich Tage an, in denen ein Ereignis das nächste jagt. Byung-Chul Han bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: “Eine lange Aufzählung von Ereignissen ergibt keine spannende Erzählung.” Seiner Meinung nach liegt das Gefühl, dass die Zeit so schnell vergeht, daran, dass es keine ‘dauernde’ Gegenwart mehr gibt, sondern nur noch eine Abfolge von Ereignissen, die immer gleich wieder vorbei sind oder nicht mal zum Abschluss gebracht werden: “Der Eindruck, die Zeit vergehe wesentlich schneller als früher, entspringt dem Umstand, dass man heute nicht mehr zu 'verweilen' vermag, dass die Erfahrung der Dauer so selten geworden ist. Man fängt ständig neu an, man zappt sich durch ‘Lebensmöglichkeiten’, gerade weil man nicht mehr vermag, die eine Möglichkeit abzuschließen.” Oder mit den Worten von George Orwell: “Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei.”
Wir können die Zeit, mit der wir uns verschulden, weil wir die Dinge nicht getan haben, niemals zurückzahlen.
HARTMUT ROSADarum fällt es uns vermutlich auch schwer, Entscheidungen zu treffen, den kaum entscheidet man sich für eine Art, seine Zeit zu verbringen, sagt man Nein zu all den Dingen, die zu jenem Zeitpunkt sonst möglich gewesen wären. Und das Nein-Sagen zu Ereignissen, das fällt vielen schwer, denn damit ist Angst verbunden – Angst, etwas zu verpassen. Und die ist so groß, dass sie sich allmählich ins Gegenteil zu verkehren beginnt. Statt der “Fear Of Missing Out” etabliert sich langsam die “Joy Of Missing Out”. Statt Multitasking findet eine Rückkehr zum Singletasking statt. Während die Beschleunigung immer mehr an Glanz verliert, wächst die Sehnsucht nach Entschleunigung.
Literaturempfehlung:
- Hartmut Rosa: Beschleunigung
- Byung-Chul Han: Vom Duft der Zeit
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