E S S A Y
Herbst. Allein schon das Wort September hört sich danach an. Die Sommerhitze weicht einer moderaten Wärme, die die Welt etwas milder wirken, sie langsam kühler und feuchter werden lässt. Wir blicken zurück auf einen Sommer, der sich wohlig-warm in uns abgespeichert hat: Stefanie hat sich in den Bergen an der frischen Luft und der starken Sonne aufgeladen, während Toni auf einer griechischen Insel salzige Luft geatmet und in türkis-blaues, glitzerndes Meerwasser getaucht ist. Nun kann der Herbst kommen, mit seinen neuen Hügeln, Bergen, Fragen – und Möglichkeiten.
Ich weiß nichts, nichts. Ich habe nicht nur keine Antwort bereit, sondern ich weiß nicht einmal eine Frage zu stellen.
SIMONE DE BEAUVOIR
HERBST. UND NUN?
Wie Sie sich vorstellen können, ist uns auch in der Sommerzeit viel durch die Köpfe gegangen. Das erste halbe 2020er-Jahr verlangte danach, ‚verarbeitet‘ zu werden. Es hat uns, wie so vielen anderen auch, mehr abverlangt als uns lieb war und Themen sowie Fragen hochkommen lassen, mit denen wir uns lieber nie beschäftigt hätten. Und auch wenn die Dinge so sind wie sie sind, so sind wir ihnen dennoch nicht ausgeliefert: „Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen,“ sagte Viktor Frankl, der Wiener Psychiater und Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse.
Wir möchten Sie in diesem Essay an unseren Gedanken teilhaben lassen – denn Gedanken lassen sich am besten ordnen, wenn man sie niederschreibt. Hier geht es um das, was in den letzten Monaten passiert ist und was wir gelernt haben. Wir fragen uns, wie es in der großen Welt weitergehen kann und geben einen Einblick in das, was in der kleinen Welt von eigensinnig so vor sich geht. Denn wenn wir eines gelernt haben (und damit sind wir schon in medias lectiones), dann das: Mit jedem Wimpernschlag, jeder Welle, jedem Atemzug kann sich alles drehen und in die entgegengesetzte Richtung wenden. Oder mit den Worten der Existenzialistin Simone de Beauvoir, die vor allem in den ersten Tagen des Lockdowns so treffend waren: „Ich weiß nichts, nichts. Ich habe nicht nur keine Antwort bereit, sondern ich weiß nicht einmal eine Frage zu stellen.“
All das bedeutet allerdings nicht, dass wir zum Nichtstun verurteilt sind und waren, dass wir in Passivität verharren müssen und mussten und uns nicht bewegen dürfen und durften. Wir sind immer noch GestalterInnen unserer Welt. Wenn sie auch einen engeren Rahmen hat, derzeit. Wir leben immer noch in Freiheit, wenn sie auch eingeschränkter ist als noch im Februar. Und gerade deshalb müssen wir gerade jetzt Verantwortung übernehmen: „Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist und immer auch anders agieren könnte‚ kann verantwortlich handeln“, sagte der Physiker und Philosoph Heinz von Förster.
EIN KURZER RÜCKBLICK UND GROSSER DANK: UNSERE CHRONOLOGIE DER KRISE
Lockdown, Quarantäne, Clusterbildung. Inkubationszeit, Reproduktionszahl, Maskenpflicht. Risikogruppe, Durchseuchung, Herdenimmunität. Einreiseverbot, Ausbruchsgebiet, Antikörpertests. Wer hätte gedacht, dass diese Begriffe uns so schnell so vertraut werden, mit welcher Selbstverständlichkeit wir sie selber anwenden würden – als hätten wir es immer schon getan? Wandel manifestiert sich auch in Worten. Wir sprechen anders als wir es im Februar taten. Wir reisen anders, wir kaufen anders ein. Wir leben anders.
Zuerst war da der März und dieses Gefühl des Gelähmt-Seins nach Verkündung des Lockdowns. Die Sorge um die Gesundheit unserer Liebsten, das Zuhause-Bleiben-Müssen, das Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-werden, das Langsamer-Werden. Die ersten Todesfälle in Österreich, die geschlossenen Geschäfte und Restaurants und Kaffeehäuser und Schulen, die Sorge um eigensinnig – wie lange können wir es uns leisten, so weiterzumachen? Wann dürfen wir wieder aufsperren?
Die wirtschaftliche Insolvenz zog weite Kreise, und während die einen ins Nichts-Tun mit seinen süßen und sauren Seiten gezwungen wurden, standen andere vor der 'Temporal-Insolvenz'.
Nach der Schockstarre kam der April und die langsame Anpassung an den Status Quo, der sich ständig änderte. Das Masken-Tragen-Müssen, die Einreiseverbote, die Reisewarnungen. Die Adaption an das Chaos, an das Ungewisse, das Hineinlehnen in den Nebel, das Sich-Einlassen-Müssen auf das Unkontrollierbare. Übungen in Avantgarde, die uns alles andere als fremd sind, aber die dennoch anders und freier sind, wenn man die Wahl hat. Während die Pandemie sich weltweit ausbreitete und Europa sich wieder in Einzelstaaten aufsplittete, die für sich sein wollten, arbeitete Stefanie zuhause an neuen Designs; Toni plante die neue Website. Wir mussten uns von MitarbeiterInnen trennen, unerwartet viele Gespräche mit Steuerberatern und Banken führen.
Es wird Mai – der Sommer kündigte sich an; es duftete gut und die Natur explodierte in den schönsten Farben. Wir sind in unser neues digitales Zuhause eingezogen, das wir monatelang aufgebaut hatten – unsere Website samt neuem Online Shop.“ Und: Wir durften wieder aufsperren. Währenddessen verloren befreundete KünstlerInnen und Kreative ihre Existenzgrundlage. Die wirtschaftliche Insolvenz zog weite Kreise, und während die einen ins Nichts-Tun mit seinen süßen und sauren Seiten gezwungen wurden, standen andere vor der „Temporal-Insolvenz“, wie der Soziologe Hartmut Rosa sie nennt, der zeitlichen Illiquidität: Der Tag hatte nicht genügend Stunden, um Home-Schooling und Job zu vereinbaren. Um sich durch den Dschungel an möglichen Unterstützungen zu arbeiten, um Kurzarbeits-Anträge auszufüllen und um Kredite anzusuchen. Die Gedanken um die Zukunft nahmen mehr Zeit in Anspruch als sonst.
Dass es eigensinnig wien heute noch gibt, ist in erster Linie unseren KundInnen – also IHNEN – zu verdanken. Dafür wollen wir uns hier und jetzt, in aller Demut, bedanken: dafür, dass Sie bei uns eingekauft haben, dass Sie uns geschrieben haben, dass Sie gute und richtige Worte gefunden haben. Sie haben unseren Eigensinn wieder in Resonanz versetzt. Wir können Ihnen nicht genug für Ihre Unterstützung danken!
WAS WIR GELERNT HABEN: LEKTIONEN AUS DER KRISE
Dass der Eigensinn stärker ist als je zuvor, haben wir neben Ihnen auch der Krise zu verdanken: Sie mobilisierte Kräfte und innere Ressourcen, von denen wir nicht wussten, dass sie in uns schlummern. Sie zeigte uns allen, wer und wie wir sind – mehr interessiert am „Wir“ als am „Ich“ oder sich selbst am nächsten? Sie beschränkte den Zugang zur Welt, verengte Sichtfeld und Radius – aber ließ uns immer noch Spielraum, um zu gestalten. Und weil Kreativität ganz ohne Rahmen sich an sich selbst verschluckt, war diese Begrenzung befruchtend.
Man spielt Fortissimo auf der Klaviatur der Reizintensivierung und hat sich genau deshalb die Möglichkeit zu einem Crescendo verbaut.
GERHARD SCHULZEDie Krise schärfte den Blick für das Wesentliche, förderte Klarsicht und Überblick, denn sie zog und zerrte uns aus dem automatistischen Alltag hinaus und zwang uns eine andere Perspektive auf. Wir hatten die Gelegenheit, unser Leben von außen zu betrachten, uns zu fragen, was darin uns gut tat und leicht machte und was wir gehen lassen sollten, weil es uns beschwerte und behäbig machte. Die Krise hat uns gelehrt, dass wir das Tempo der Welt gar nicht mitmachen, dass wir das „Steigerungsspiel“, wie der Soziologe Gerhard Schulze es nennt, gar nicht spielen müssen: „Man spielt Fortissimo auf der Klaviatur der Reizintensivierung und hat sich genau deshalb die Möglichkeit zu einem Crescendo verbaut.“ Sie hat uns gezeigt, dass es Alternativen zur Beschleunigung gibt, die nicht zwangsläufig mit Entschleunigung in Zusammenhang stehen, sondern vielmehr mit Resonanz: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung“, schreibt der Soziologe Hartmut Rosa.
VON DER WELT DES EIGENSINNS IN DIE GROSSE WEITE WELT: ÜBER DIE VERÖDUNG DER STÄDTE UND DAS ALLEINSEIN DER MENSCHEN
Was auf die Welt zukommt, ist ebenso wenig vorhersehbar wie das, was in unserem Mikrokosmos geschehen wird. Niemand kann die ökonomischen, gesellschaftlichen, sozialen und psychologischen Auswirkungen der Pandemie abschätzen. Man hat das Gefühl, dass die Regierungen der einzelnen Länder sich immer nur langsam im Nebel vorantasten, und dabei stolpern sie nicht selten über die eine oder andere Wurzel.
Was passiert mit dem Menschen, der, wie der Philosoph Martin Buber sagt, erst „durch das Du zum Ich wird“ und nun gelernt hat, Abstand zu halten und sich, wenn es von einer Autorität verlangt wird, zu isolieren? Gewöhnen wir uns an diese Abstände oder vergrößern sie nur unser Bedürfnis nach Nähe, Körperkontakt und Berührungen? Kommt es zu einer Rückkehr in die Kernfamilie und zu einer Abkehr von der Öffentlichkeit? Sorgen die selbstverständlich gewordenen Masken für eine neue Choreografie der Gesellschaft? Werden wir im Zeitalter der Individualität wieder in eine Uniformität gezwungen, in der wir uns und unsere Emotionen verstecken müssen?
Der Moment, in dem die Frage den Fragenden verwandelt.
JEAN-PAUL SARTREWas passiert mit dem Leben in der Stadt? Stadt ist Kultur. Stadt heißt Gesellschaft. Stadt heißt Fortschritt. Sie pulsiert, vibriert, leuchtet, lebt laut und intensiv. Sie ermöglicht zufällige Begegnungen, weiß zu überraschen und manchmal zu überrumpeln. Das wird ihr nun verwehrt. Veranstaltungen, Theater, Konzerte finden derzeit – wenn überhaupt – nur im kleinen Rahmen statt. Menschen dürfen nicht in Gruppen sein. Die Stadt löst sich in Abständen auf; sie darf nicht mehr Stadt sein, sondern wird auf ihre Gebäude reduziert. Über ihr schwebt die Möglichkeit einer Ansteckung wie ein unsichtbares Damokles-Schwert. Sie verändert die Stimmung, legt sich wie Nebelschwaden in die Luft hinein. „Das Virus ist ein direkter Angriff auf die Stadt. Städte leben von Dichte, Offenheit, Kommunikation, Austausch. (…) Sie waren seit Beginn der Zivilisation die Motoren des menschlichen Fortschritts. Nun, in Zeiten von Covid-19, sind Städte Petrischalen der Pandemie,“ schreibt, Thomas Seifert, Chefredakteur der Wiener Zeitung. Kommt es zu einen „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ und zu einer „Tyrannei der Intimität“, wie der Soziologe Richard Sennett schon vor vielen Jahren in seinem gleichnamigen Buch prophezeit hat?
Was passiert mit der Arbeitswelt? Werden wir in Zukunft alle vermehrt im Homeoffice und in digitalen Sphären arbeiten, weil es sich bewährt hat? Werden wir andere jetzt noch öfter im Video-Chat treffen anstatt im Kaffeehaus oder im Park?
Fragen heißt nicht wissen, aber wissen wollen. Fragen heißt, sich zu interessieren, sich zu sorgen. Fragen gibt dem Denken einen Weg, öffnet Möglichkeitsräume.
Was passiert mit der Reisefreiheit? Nationalstaaten verhängen Warnungen an Nachbarn. Die Staatszugehörigkeit determiniert die Einreise-Möglichkeiten in andere Länder. An Flughäfen wird Fieber gemessen; Hände werden desinfiziert; nach der Rückkehr aus dem Urlaub lässt man sich (un)freiwillig testen.
Was passiert mit Regionen, in der die Demokratie unter Druck steht und die von der Pandemie am meisten betroffen sind: USA, Teilen Lateinamerikas, Indien?
Die Antworten auf all diese Fragen sind ungewiss. Dennoch müssen wir sie stellen – denn im Fragenstellen an sich liegt schon eine große Kraft: Der Philosoph Jean Paul Sartre spricht vom „Moment, in dem die Frage den Fragenden verwandelt“. Fragen heißt nicht wissen, aber wissen wollen. Fragen heißt, sich zu interessieren, sich zu sorgen. Fragen gibt dem Denken einen Weg, öffnet Möglichkeitsräume.
EIN AUSBLICK: MIT GESTÄRKTEM EIGENSINN INS UNGEWISSE
Unser Eigensinn ist stärker als je zuvor, weil wir inmitten der Krise und des Sturms auch wieder langsam unseren Fokus zurückgewinnen: Das Essentielle löst sich vom Unwesentlichen ab. Und auch wenn wir – ganz im sokratischen Sinne – wissen, dass wir nichts wissen und dass sich alles jederzeit ändern kann, können wir zumindest eine Richtung einschlagen, die sich richtig anfühlt und uns in die für uns bestmögliche Zukunft hineindenken. Natürlich im Wissen, dass es Kräfte gibt, die wir nicht kontrollieren können – glücklicherweise. Man stelle sich ein Leben vor, das völlig vorhersehbar ist. Sind nicht gerade die Dinge, die wir nicht kontrollieren können, diejenigen, die besonders schön leuchten und uns am meisten faszinieren – im Nachhinein zumindest? Ist es nicht anregend, beizeiten erschüttert zu werden? Und ist es nicht interessant, dass die Grenzen der eigenen Wahrnehmung sich besonders dann weiten, wenn die äußeren Umstände immer mehr einengen?
„The show must go on“ wird zu „There will be something different.“ Etwas Anderes, das sich erst aus unseren Vorstellungen und den von außen kommenden Einflüssen manifestieren muss, das Raum und Zeit braucht, um das zu werden, was es ist.
Wir halten uns fest an unserem Eigensinn; er gibt uns Orientierung. Er hat uns über die Berge geführt, die bereits hinter uns liegen und er wird uns auch durch den Nebel des Herbsts, den kalten Winter und die kommenden Anstiege leiten. Mit einer Mischung aus Skepsis und Vorfreude gehen wir Schritt für Schritt weiter. Wir setzen unseren Weg fort.
Wider der Norm, wider der Einheitlichkeit, wider dem Trend geht es uns um das Echte, um Charakter, um das Einzigartige, Rare, Individuelle.
Wir haben festgestellt: Die aktuelle Lage der Welt spiegelt sich im ursprünglichen Konzept von eigensinnig wider. „Das Große spiegelt sich im Kleinen – das ist Dialektik“, hat die Hip-Hop-Band Freundeskreis mal gesungen. Deshalb bleibt einerseits vieles so, wie es immer war: die schwarz-grauen Farbwelten, die ein Gefühl von Kontinuität, Halt und Sicherheit vermitteln. Der experimentelle Prozess, in dem wir unsere eigenen Avantgarde-Kollektionen entwerfen und uns bewusst in neue, unbekannte Sphären begeben – so wie Corona uns gezwungen hat, es zu tun. Die Unikate, die dazu da sind, das Eigene des Trägers oder der Trägerin sichtbar zu machen. Die kuratierten Kollektionen von Partnern wie Daniel Andresen, Hannibal Collection, Forme D’Expression, die sich immer schon der Uniformität entsagt und subtile Rebellion vermittelt haben: „There was a sense of disappointment as we left the mall. All the young people looked the same”, so eine Textzeile im Song „Uniform“ der britischen Band Bloc Party. Wider der Norm, wider der Einheitlichkeit, wider dem Trend geht es uns um das Echte, um Charakter, um das Einzigartige, Rare, Individuelle.
Es wird aber auch Änderungen geben. Um welche es sich handelt, verraten wir Ihnen im nächsten Essay. Bis dahin: Schauen Sie auf unsere Website, stöbern Sie durch den Online Shop und entdecken Sie Herbstliches. Denn mit dem September startet schließlich auch der Herbst.
Übrigens: Weil im „roten Wien“ die Corona-Ampel nun gelb leuchtet, müssen in geschlossenen Räumen vermutlich Masken getragen werden. Deshalb haben wir die Maske „Wilson“ entwickelt – eine kleine Anspielung auf die eigensinnige gleichnamige Figur aus der US-Serie „Hör mal, wer da hämmert“: der stets hinter einem Gartenzaun versteckte Nachbar, der immer Rat hatte, wenn man ihn brauchte.
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