E S S A Y
„Ein Krise besteht darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann“, schrieb der italienische Schriftsteller Antonio Gramsci. Das beschreibt unsere aktuelle Gefühlslage ganz gut. Unsere Türen sind nun auf unbestimmte Zeit verschlossen; geduldig und in großer Stille und Dunkelheit hängen die eigensinnigen Unikate an den Stangen. Zwischen alten, dicken Mauern und unter dem hohen Gewölbe.
Auch wir, Stefanie und Toni, befinden uns innerhalb unserer eigenen vier Wände. Während Toni sich der Philosophie widmet, seine Gedanken zur aktuellen Situation aufschreibt, über das Kommende nachdenkt und sich in panischer Gelassenheit und skeptischer Fröhlichkeit übt, hat sich Stefanie zuhause ein Ersatzatelier eingerichtet. Innerhalb des Rahmens ihrer Wohnung versucht sie, in einem Zustand zwischen Zuversicht und Zweifel, eine kreative Routine zu entwickeln und neues Eigensinniges zu erschaffen, von dem sie nicht weiß, ob es auch jemals das Licht der Welt erblicken wird.
„Eine Krise fördert die Kreativität, viele Krisen zerstören sie“, wie der deutsche Mediziner Gerhard Uhlenbruck sagte, und wir fragen uns, wo wir gerade stehen. Die Krise durchdringt alle Bereiche des Lebens, sie ist überall spürbar, jederzeit. Das Nicht-Wissen-Können ist der Status der Stunde, eine gewisse Absurdität liegt in der Luft. So viel Zeit, so wenige Pläne, die Zukunft ist in Nebel gehüllt und die Atmosphäre verdichtet. Weder die Köpfe noch die Hände können begreifen, was geschieht. Die Köpfe können das nicht, weil so viele Unbekannte in der Luft schwirren, und die Hände, die dürfen keine anderen mehr zum Gruß schütteln, und ständig müssen sie sich waschen.
Willig tun, was man will.
Willig leiden, was man muss.
MAN MUSS SICH SISYPHOS ALS GLÜCKLICHEN MENSCHEN VORSTELLEN
„Das Absurde hat nur insofern einen Sinn, als man sich nicht mit ihm abfindet,“ hat Albert Camus im Mythos des Sisyphos geschrieben. Sisyphos als Sinnbild des Menschen, der keinen von außen auferlegten Sinn kennt, der in einer sinnleeren, absurden Welt leben muss – von diesem Weltbild gehen die Existenzialisten aus. Sieht der Mensch diese Absurdität, wird er sich der Sinnleere bewusst, dann erhebt er sich über sie, dann überwindet er sich selbst. In diesem Sich-Erheben, in dieser Selbstüberwindung liegt die große Freiheit.
Er lässt sich nicht überwältigen von der Absurdität. Er nimmt sie zwar wahr, nimmt sie als gegeben hin, aber ist dennoch größer, denn er kann sein Schicksal gestalten, aktiv sein, er kann revoltieren. Das Akzeptieren einer Sache und die Auflehnung dagegen schließen sich nicht aus. Sie sind gleichzeitig möglich. Sie machen aus passiv Leidenden aktiv Aushaltende.
„Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“, schreibt Camus. Auch Arthur Schopenhauer, der nicht unbedingt als Glücksphilosoph in die Geschichte eingegangen ist, meinte: „Willig tun, was man will. Willig leiden, was man muss.“
Wie eine stille Revolte gegen das Absurde fühlt sich auch unser Alltag an. Wir rollen unseren eigensinnigen Stein konsequent weiter, wenn auch etwas langsamer und mit mehr Seitenblicken. Das „Ich denke, also bin ich“ von René Descartes wird zu einem „Ich stelle fest: Es gibt auch andere“. Und weil es andere, zu Schützende, gibt, bleiben wir zuhause und lassen zu, dass wir auf uns selbst zurückgeworfen werden.
Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung...
- Mir nicht.
DAS SICHTBARE UND DAS UNSICHTBARE
„Wir denken selten an das, was wir haben, aber immer an das, was uns fehlt,“ so weitere Worte von Schopenhauer. Plötzlich spüren wir die Freiheit, die für uns immer so natürlich war, nur in ihrer Abwesenheit. Die Systemerhaltenden, die sonst verborgen waren, stehen im Rampenlicht der Krise und drängen die anderen, die sich sonst immer vorgedrängt haben, zurück. So wie in der Gesellschaft unsichtbar Gewesenes zum Vorschein kommt, war es und ist es immer schon unser Anliegen, Eigenes sichtbar zu machen.
Was im Februar noch selbstverständlich war, ist es nun nicht mehr. „Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung...“ – „Mir nicht.“, antwortete Theodor Adorno im berühmten Spiegel-Interview von 1969.
Alle Menschen haben von Natur aus das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum.
JOHN LOCKEDIE DEMOKRATIE IN DER KRISE
Die Welt ist noch mehr durcheinander als sonst. Die westliche Wohlstandsgesellschaft kollabiert in sich selber, wie ein mit Luft gefülltes Kissen, das eingestochen wird. Wir legen so einige Grundrechte auf unbestimmte Zeit mehr oder weniger freiwillig ab. Die Bundesregierung hat Geschäfte, Cafés und Restaurants schließen lassen und dadurch in die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte der Menschen, wie Versammlungs- oder Erwerbsfreiheit, eingegriffen.
Für John Stuart Mill, dem Vordenker des Liberalismus, ist es in einer Demokratie, die sich nicht in einem Ausnahmezustand befindet, von oberster Priorität, seine Persönlichkeit frei entfalten und sein Leben selbstbestimmt führen zu können, frei von politisch-gesellschaftlichen Zwängen. Nur unter bestimmten Umständen sei es in Ordnung, wenn Machttragende dieses Recht aussetzen: „Der Staat, die Gesellschaft oder auch jene, die Macht haben, dürfen in die individuelle Lebensführung eingreifen und die Freiheiten seiner Mitglieder einschränken, jedoch nur zum Zweck des Selbstschutzes oder dem Schutz anderer Mitglieder“, schrieb Mill vor über 150 Jahren in seinem Werk ‚Über die Freiheit‘.
Auch John Locke, Philosoph der Aufklärung, befasste sich mit den Prinzipien einer Demokratie: Gewaltenteilung, Souveränität des Volkes und Wahrung des Privateigentums. So schrieb er: „Alle Menschen haben von Natur aus das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum.“ Sie haben das Recht auf den friedlichen und sicheren Genuss ihres Eigentums, und das wird gewährleistet durch die Gesetze, die dazu erlassen worden sind. Wenn Gesetze diese Freiheiten (zu Recht) beschränken, haben die Bürger das „Recht auf Widerstand gegen die Regierenden.“
Wir nehmen all diese Einschnitte und Beschränkungen in Kauf, weil wir wissen, dass es andere Menschen gibt. Dennoch: Auch wenn die Maßnahmen richtig sind, so müssen sie temporär bleiben.
In einer Demokratie müssen einschneidende, alles verändernde Einschränkungen wie diese mit gesetzlich geregelten, angemessenen Entschädigungen ausgeglichen werden. Die BürgerInnen dürfen nicht zu BittstellerInnen degradiert werden. In Zeiten wie diesen ist es wichtig, nicht zu blinden Schafen zu werden. Das Hinterfragen muss bleiben. Eine Skepsis muss bleiben. Bleiben wir wach und offen, bleiben wir denkend. Und: Bleiben wir zuhause.
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