Das Jahr und das gefühlte Jahr
Das Jahr und das gefühlte Jahr

2020-21-22:
DAS JAHR UND DAS GEFÜHLTE JAHR

Tanzen wir zum Beat der Pandemie

Wann hat 2020 eigentlich angefangen – und wann hat es angefangen, aufzuhören?

Hat es überhaupt aufgehört? Konnte 2021 vielleicht gar nicht beginnen, weil 2020 nie mit diesem Aufhören aufgehört hat, und geht es nun, im Jahr 2022, weiter mit dem Aufhören, als hätte die Erde sich nicht ein weiteres Jahr um die Sonne gedreht? Wobei die Sekunde um den Jahreswechsel auch nicht länger dauert als jede andere. Dennoch gibt es wohl so etwas wie die Relativität der Zeit. Ist eine Sekunde im Schmerz nicht unendlich länger als eine Sekunde im Glück? Zieht sich die erste nicht zähflüssig in die Länge, extensiv in die Horizontale, während die zweite intensiv in eine weiche Tiefe einsinken lässt – so, als ließe man sich in ein Bett mit frischer Bettwäsche fallen oder als würde man sich auf die beste Art und Weise in einem Beat verlieren?

Alors on danse.

 

Pandemie, wie lang bist du?

Vielleicht kann das neue Jahr nicht anfangen, weil 2020 auch 2021 nicht mit dem Aufhören aufgehört hat. Wir schreiben das Jahr 2020-21-22, könnte man sagen. Ein Kalenderjahr mit seinen zwölf Monaten, etwa 52 Wochen und meistens 365 Tagen ist auch nichts anderes als der Versuch des Menschen, den Fluss der Zeit zu strukturieren, um darin nicht unterzugehen. Wie ein unsichtbares Gitter, eine Schablone oder eine Hilfskonstruktion, um Pläne machen zu können. Wie ein Rahmen, in den man sich sein Leben hineinbaut wie ein Haus – und alles, was einem nicht passt, schmeißt man in den Keller. Und dann glaubt man, endlich ankommen zu können. „Das Gefährlichste im Leben sind Wunschträume, die in Erfüllung gehen“, heißt es im Film Momo von Michael Ende.

Kommt irgendjemand jemals irgendwo an? Und wann hört dieses Pandemiejahr auf? Wann findet es den Abschluss, an den man sich in freudiger Erwartung klammert, um sich gleich danach von ihm lösen zu können? Die Sehnsucht nach dem sauberen Strich und klaren Cut ist groß.

Hingegen macht uns die Pandemie en permanence Striche durch die Pläne, von denen wir glauben, dass sie uns glücklicher machen oder uns zumindest eine gewisse Sicherheit geben. (Manchmal tun sie das vielleicht auch.) Seit Pandemiebeginn torkeln wir durchs Leben. Wir stolpern von Lockdowns in Phasen, die das Pandemie-Ende herbeischwören und dabei das Licht am Ende des Tunnels verschreien. Es gab Momente, ganze Monate, da schien es wieder zu „werden“, und dann wurde es doch nicht. Und nun schlagen wir uns selbst gegen die Stirn: Wie naiv wir waren, anfänglich gedacht zu haben, es handle sich um eine Art „Zwischenzeit“, die wir nutzen könnten, um zu „entschleunigen, die Zukunft neu zu denken, innerlich zu expandieren“! Nur: Können wir es uns wirklich verübeln, versucht zu haben, dem Schlamassel etwas abzuringen? Wohl kaum. Wir wussten es nicht besser. Was wäre die Alternative gewesen? Jetzt, da wissen wir es besser. Wir sind desillusioniert, wir sind enttäuscht – im besten Sinn: wir haben etwas als Illusion und Täuschung entlarvt. In der Entlarvung lichtet sich ein Nebel, in dem man sich wohlgefühlt hat – in dem aber auch das klare Sehen unmöglich war. Was Klarsicht und Erkenntnis betrifft, sind Desillusionierungen und Enttäuschungen keine Niederlagen, sondern Errungenschaften.

 

Im On-Off-Modus

Ein sauberer Strich will sich nicht ziehen lassen. Es ist ein Hin und Her, ein Auf und Ab. Wir öffnen und schließen, öffnen und schließen, öffnen und schließen in immer kürzer werdenden Intervallen. Der Alltag fühlt sich beizeiten an wie ein lethargisches Dahingleiten, wie ein Existieren auf Minimalflamme, wie ein Minimal-Techno-Beat. Als würde man dem Leben dabei zusehen, wie es an einem vorbeiläuft, während man sich selbst nicht mehr spürt. Und dann, dazwischen, immer wieder die von außen und innen kommenden Stiche und Schläge und Dongs und Beat-Drops, die eine:n aus der Apathie reißen: Neuer Lockdown! Neue Mutation! Neue Regeln!

Ist das die Melodie der Pandemie? Ein schwerer, melancholischer Untergrund, der durchbrochen wird von Spitzen, die eine:n immer wieder ins Jetzt holen?

 

Wer den Alltag meistert, ist ein Held

Der Untergrund kann als Manifestation des „Zeitalter des Schwirrens“ verstanden werden, das der Philosoph Byung-Chul Han schon vor der Pandemie diagnostiziert hat. „Im Alltag passiert überall nichts, aber das mit Höchstgeschwindigkeit“ – auch diese Worte von Elmar Kupke passen zum aktuellen Lebensgefühl, in dem man sich mehr als Antiheld fühlt, wenn auch Fjodor Dostojewski sagte: „Wer den Alltag meistert, ist ein Held.“ Es scheint, als würden ein lautloser Tinnitus und eine unsichtbare Sehstörung die Weltsicht verwässern und in Neonweiß rauschen lassen. Als wäre das Leben ein schwacher Negativrausch ohne Endorphine, in dem Tag und Nacht keine Gegensätze mehr bilden. Die Stunden mäandern zähflüssig und schwerfällig vor sich hin, die Atmosphäre ist verdichtet, undurchsichtig, stickig. Kann mich hier bitte jemand rausholen?, fragt man sich. Die Stille schreit so laut.

Und wo ist eigentlich die Sonne?

Ist die Sonne auf manchen dieser Spitzen?

Vielleicht auf denen, die man selbst erschafft? Denn manchmal schreit man zurück. Der Negativrausch wird mit einem bewusst herbeigeführten Rausch überschrieben, der womöglich auch den Mangel an Ritualen kompensieren soll, an dem die postmoderne Welt ohnehin schon leidet. Der Rausch an sich ist ja etwas Großartiges: ein exzessiver Ausnahmezustand, der den Lauf der Dinge kurzzeitig intensiv unterbricht. Aber: Je höher das Hoch, desto härter der Aufprall nach dem Fall. Jeder Orgasmus ist ein kleiner Tod. Wer gleichzeitig auf Bremse und Gaspedal steht, brennt schneller aus. Je enger die von außen vorgegebenen Restriktionen, umso kürzer die Intervalle. Der Rhythmus des Lebens gleicht einer Tachykardie, das Pendel schlägt aus wie nie. Bis zum Punkt, an dem es heißt: Stop.

Where is my mind?

 

Alors on danse

 

Der belgische Musiker Stromae stolpert und torkelt im Video zum Song „Alors on danse“ durch den Tag. Büro, Ex-Frau, Bar, Club, Blackout, Büro. Der Weg des modernen Sisyphos führt nicht mehr einen Berg hinauf und wieder hinunter, er beginnt mit einer entfremdeten Tätigkeit im Büro, geht weiter mit dysfunktionalen Beziehungen und endet mit dem Vollrausch und Filmriss, der eine:n direkt wieder ins Büro bringt. Der Stein des modernen Sisyphos ist in ihm selbst – und er wiegt schwer. Er ist vollgefüllt mit Druck, Terminen, Verpflichtungen, Rechnungen, Schuldgefühlen und all den Imperativen, die die Gesellschaft an ihn stellt: Du musst etwas Sinnvolles tun. Du musst glücklich sein. Du musst gut aussehen. Du musst dich selbst lieben. Und jetzt musst du schon seit fast zwei Jahren die Chancen in der Krise sehen.

Alors on danse.

 

Also tanzen wir zum Beat der Pandemie

Im Tanzen spürt man das Gewicht der Zeit nicht mehr. Die Grundstimmung der Geschichte mag düster sein, der Beat ist es nicht. Er macht schwer Erträgliches leichter. In Lars von Triers Film Dancer in the Dark (2000) arbeitet die von Björk dargestellte Selma in einer Metallfabrik. Die Geräusche der Maschinen werden für sie zu Melodien, die die harte Arbeit relativieren, fast schon meditativ werden lassen. Rhythmen können Leben retten. Geschichten können das auch.

 

Also tanzen wir

Tanzen ermöglicht Intensität in der Extensivität. Es relativiert das Zeitempfinden, aber auch das Weltempfinden – überall auf der Welt. Tanzen ist, wie Musik, eine Universalsprache. „Im Tanz befreit die Seele den Körper vom Geist“, sagt die Philosophin Lisz Hirn. Tanzbewegungen schreiben sich in den Körper ein, sodass er sie noch beherrscht, wenn der Geist zu schwinden beginnt – wie das Video einer an Alzheimer erkrankten ehemaligen Ballerina zeigt, die beim Hören von Tschaikowskis Schwanensee fast schon reflexartig die Choreografie mit den Armen nachtanzt. Der französische Philosoph Paul Ricœur war überzeugt davon, dass sich Körper und Geist nicht trennen lassen, wie Descartes mit seinem Dualismus postuliert hatte. Erinnerungen waren für ihn auch körperlicher Natur. Auch der Therapeut Peter Levine spricht im Kontext von Traumata vom „Körpergedächtnis“: Was sich auf Verstandesebene nicht verarbeiten lässt, setzt sich im Körper fest.

Tanzen kann befreiend sein, es kann Knoten lösen. Tanzen verbindet, auch wenn man es allein tut. Die Maori exerzieren den Haka als Kriegstanz. Im Krieg wird getanzt. In der Krise wird gelacht. Im Sterben wird geliebt. Wo holt man sich Leben in einem Dauerkonflikt? Es gibt eine Gleichzeitigkeit der Dinge: Im Schrecklichen liegt Schönheit, im Brutalen steckt Poesie, in der Trauer die Liebe.

Would you prefer not to?

In der Dauerkrise liegen wahrscheinlich Chancen, aber wir sind frei darin, sie zu ergreifen oder zu sagen: „I would prefer not to.“ Wir müssen der Dauerkrise nichts abgewinnen. Wir müssen nicht das Gute in ihr suchen, wir müssen nicht schöpferisch sein. Wir müssen nicht dauernd probieren, über sie zu triumphieren. Wir lassen sie sein, wir existieren durch sie hindurch und das durchaus auch intensiv. Ihrem schweren Grundton fügen wir selbstgewählte Beats hinzu.

Und wenn wieder etwas kommt wie Omikron, dann gibt es auch dafür den passenden Beat, mit dem wir vielleicht besser durchkommen:

 

Alors on danse.


Text: Martha Miklin | textstuecke.at
Model:
Malu | Stella Models
Konzept/Fotografie: Toni Woldrich | eigensinnig wien